BEBEN
Kooperation mit Cathérine Kuebel - Text: Sina Ness
SCHLAFES BRUDER – BLASS, FRECHER DU!
Am Ende war die Stille. Doch ihr vorhergegangen war das Rauschen.
Das Rauschen der Stimmen, das
Rauschen der Bilder. Der versiegende Wasserfall der Farben umspülte die felsgewordenen Worte und schwemmte die Jahrtausende
alten Vokale und Konsonanten aus
ihnen heraus. Leise singend versickerten sie und lagerten sich auf dem Grund der wogenden Ozeane ab.
Am Ende war die Stille des Wassers, die
Stille des gleichgültigen Horizonts. Doch
in ihr schlummerte die Unruhe. Sie umspülte
die stillen Küsten, aus denen der
sonnengebräunte Mensch längst herausgeschält
war. Zurück blieben Hüllen, Chitin-
Panzer seiner Architektur, in welche das
leise murmelnde Meer sich still hineinwob.
Am Ende war die Stille. Doch die Stille lag
wach, wie du.
Sie konnte nicht schlafen, denn in ihr
rumorte noch immer das Rauschen, das
sie verschluckt hatte. Sie lag wach in der
Herzkammer, dem leeren Sarg.
Das Herz war ein kleines, mennigrotes
Haus, an dessen Tür niemand mehr klopfte.
Doch eine zierliche Rauchschwade stieg
vielleicht noch aus dem Kamin empor. Der
Wind grüßte sie, um sich ihrer zu entledigen
und schrieb dabei in seiner gekräuselten
Handschrift in die Luft: Geh leis’ an
meines Grabes Flur, ich schlafe nur...
VERWERFUNG
Am Ende war die Stille. Doch an ihren schlaflosen Verwerfungen
schlummerte das Beben. Der Erdbebenherd.
Man sagt, die Tiere fliehen, lange bevor
das Beben beginnt. Einäugig, lahmhufig,
in Mutterwehen, blau, grün, rot liefen sie,
krochen sie, stelzten sie, flogen sie davon.
Tief in den Sedimenten des Meeresbodens
flüsterte es schon: beben — beven, biben,
belbern, bibberan, bidemen, bibheti... Der
japanische Riesenwels Onamazu zuckte im
Schlamm. Wie ferne Kirchenglocken klang
es in der Brandung: bhoi, bijotis, bojatise,
bhaayaté... fürchtet euch!
Und im nächsten Augenblick war es bereits
geschehen: Zubodenstreckung, Trümmer,
Schutt und Gebälk, Dampf und Qualm und
dann – wieder Stille.
Aus der Stille entsprang das Beben und
aus dem Beben erwuchs das Gebet. Doch
das Gebet gehörte denen, die nicht wussten,
wie man die Götter und Engel ruft. Es
gehörte dem bucklicht Männlein, das von
den ineinander gefalteten Händen nur die
Berührung der Finger empfinden konnte.
Das Gebet war die Geburt des Schmerzes.
Aus dem Schmerz jedoch wurde das Zittern
und aus dem Zittern kehrte die Wärme zurück
in den kalten Körper und drang in
das einsame Herz, in dem wir begraben
lagen, jene Leerstelle, die wir so gern mit
unserem Lärm bevölkerten. Wir gaben ihr
den Namen Heimat.
Dort drinnen waren wir gefangen, im Leib
des Torsos, im mennigroten Haus, an dessen
Tür niemand klopfte, aufgeschichtet
auf losen Pflastersteinen, gehüllt in Kleider
aus Fetzen von Nacht, gewoben aus
Dunst und Träumen, mit eisernen Heringen
vertäut.
Der Wind fuhr durch das Gewebe und lachte:
Weiß träumt von Schnee, mein Herz,
schwarz träumt von Kohle, und ist befreundet
mit der Nacht, die niemand nachkoloriert,
die niemand rahmt und niemand
zähmt.
DIE ASCHE GING EINEN PHÖNIX SUCHEN
Am Ende war die Stille. Und es war die Stille der zurückgebliebenen
Asche. Doch aus der Asche entschwebte
der Rauch, der dem Rauschen verwandt
war. Und jene Rauchschwade, die vielleicht
aus dem Kamin des mennigroten Hauses
entwichen war, erstarrte allmählich zu einem
Unterschlupf, einem Nest, einer Höhle,
einem Puppenhaus. In seinen gewundenen
Fluren wohnt vielleicht schon der
Hauch einer fremden, neuen Sprache, darin
wohnen Rauchzeichen, Satzzeichen und
Atempausen, die es noch nicht gab. Darin
wohnt das Fieber der Nähe, eine Ahnung
von Gesicht, das neue Leben aus Staub.
Am Ende war die Stille. Und die Stille
lag wach, wie wir. Doch als der Wind ihr
die Hand reichte und ihr beim Aufstehen
half, da entriss sich der Stille das Rauschen.
Und es war das Rauschen des Flügelschlags.
Federleicht und doch verknöchert,
entschwirrte aus dem Schutt, aus
dem Treibgut, dem Sediment ein weißes
Wesen. Es kämpfte sich aus dem Unrat der
Geschichte, aus der sanften, ahnungslosen
Brandung der Überreste, der Farben und
Stimmen: Ein leichtes, wellenreitendes
Vielleicht.
Du, zartes Skelett schlägst nun angriffslustig
mit deinen Flügeln vor der Kulisse
von Sonne und Meer. Der blasse Dämon,
Sohn der Nacht, Bruder des Schlafes, Hüter
der letzten Haarlocke: Er hat dich entlassen.
Nun ist es an dir: Wir konnten fliegen.
Fliegen lernen kannst nur du.